So werden Essstörungen behandelt

Magersucht, Bulimie, Essstörungen: sie können schwerwiegende Folgen haben und brauchen professionelle Betreuung.

Essstörungen gehören bei Jugendlichen sind keine „Kleinigkeit“, sondern gehören zu den Störungen, die man am meisten ernst nehmen und am sorgfältigsten behandeln muss.

Zu Beginn machen Jugendliche oft eine für die Außenwelt nachvollziehbare Diät, die Mädchen erhalten viel Bestätigung von außen: „Du bist aber schön schlank geworden“, und fühlen sich ermutigt, weiterzumachen. Bei einer magersüchtigen Entwicklung laufen diese Bereiche aber mehr und mehr auseinander: der Gewichtsverlust ist inzwischen beträchtlicher, die Umwelt signalisiert: „Du siehst viel zu dünn aus, wieso tust du das?“, aber die Jugendliche ist noch immer nicht zufrieden mit ihrem Gewicht und ihrem Aussehen und möchte weiterhin abnehmen – und muss die Hinweise der Umwelt natürlich ignorieren und sich gleichzeitig mehr zurückziehen. Deshalb werden Mahlzeiten zunehmend „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ eingenommen, außerhalb der Familienmahlzeiten, und Kontakte zu Freunden werden oft reduziert, vor allem, wenn sie mit Essen verbunden sind. Essen in Gesellschaft verlangt von einem magersüchtigen Mädchen viel Vorausplanung, weil es mit seinem selbsterstellten Diätplan nicht in Konflikt kommen möchte. Spätestens an diesem Punkt ist eine professionelle Beratung sinnvoll, denn je länger dieses Verhalten durchgehalten wird, umso stabiler wird es – das heißt, der Weg heraus wird immer schwieriger zu gehen.

Eine Bulimie tritt häufig nicht durch Gewichtsverlust in Erscheinung. Den Eltern fällt aber auf, dass der Kühlschrank öfter „geplündert“ ist, dass zunehmend Essensreste im Jugendzimmer auffindbar sind, dass die Jugendlichen auffällig oft nach den Mahlzeiten im Badezimmer „verschwinden“, und oft sind auch Spuren von Erbrochenem zu finden, oder die Jugendliche wird sogar zufällig von den Eltern oder Geschwistern beim Erbrechen „erwischt“. Auch an diesem Punkt ist es bereits notwendig, Kontakt zu einer professionellen Beratung herzustellen, denn absichtliches Erbrechen nach dem Essen ist niemals „normal“, und der Kontrollverlust, sich nicht mehr auf reguläre Mahlzeiten und normale Mengen beschränken zu können, ist ebenfalls einer Abklärung wert. Auch hier gilt nämlich, dass der „Weg hinaus“ umso schwieriger zu finden ist, je länger das problematische Verhalten schon geht.

Wenn die Gewichtsabnahme oder die Essanfälle mit nachfolgendem Erbrechen erst seit wenigen Wochen oder Monaten bestehen, ist es oft noch relativ gut möglich, im Rahmen einer ambulanten Behandlung „die Kurve zu kriegen“. Wenn das Problem aber schon ein halbes oder ganzes Jahr oder noch länger besteht, wird eine Änderung des trainierten Verhaltens selbst in einer Therapie immer schwieriger. Die krankhafte Überzeugung, trotz Normal- oder sogar Untergewichts „zu fett“ zu sein („Körperschemastörung“) kann bei längerem Verlauf sogar wahnhafte Züge annehmen, sie werden also zu festen Urteilen, die der Belehrung von außen nicht mehr zugänglich sind. Es ist überhaupt nicht damit zu rechnen, dass die beschriebenen Probleme „von alleine“ wieder aufhören oder einzig innerhalb der Familie lösbar sind. Die Beteuerungen einer Jugendlichen (sofern sie überhaupt bereit ist, über dieses Thema zu sprechen und nicht ohnehin alles verharmlost), „es schon zu schaffen“, oder die Bemühungen einer Mutter, durch „viel Hilfe“ ihrer Tochter aus der Krankheit herauszuhelfen, sind praktisch nie von Erfolg gekrönt. Unbehandelt führen Magersucht oder Bulimie aber in 10% der Fälle zum Tod, und ein Drittel der Erkrankten bleibt (sogar mit Therapie) chronisch über viele Jahre krank. Die durchschnittliche Dauer einer Essstörung im Jugendalter beträgt 5 Jahre. Deshalb ist es überaus wichtig, eine Behandlung frühzeitig zu beginnen, mit Hilfe von Experten durchzuführen und ausreichend lange beizubehalten.

 


 

Was erwartet einen, wenn man das erste Mal zu einem Therapeuten geht?

 

Zunächst wird ausführlich die Vorgeschichte der Essstörungs-Symptomatik besprochen. Wie es anfing, wie es stärker wurde, wie sich das Gewicht entwickelt hat, welche anderen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion man ergriffen hat (Sport, Abführmittel, Erbrechen). Besprochen wird auch das soziale Leben: die Familie, der Freundeskreis, die Schule – welche Einschnitte hat es zu Beginn der Essstörung gegeben, was hat sich in der seitdem vergangenen Zeit verändert, was hat sich verschlechtert, was ist vielleicht sogar besser geworden (manche Patienten erfahren z.B. mehr Beachtung, wenn sie abnehmen), wo ist es schon zu sozialem Rückzug oder Verlust der Leistungsfähigkeit (Schule) gekommen? Wichtig ist auch, begleitende psychische Symptome zu erfragen: Ängste, Stimmungsschwankungen, Depression, Zwänge.

Weil zur Einordnung all dieser Faktoren viel Fachwissen erforderlich ist, ist es am besten, zur Abklärung einer Essstörungssymptomatik einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzusuchen, da er über das größte therapeutische und medizinische Wissen verfügt. In Frage kommen auch psychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (die aber die körperliche Symptomatik nicht genau einschätzen können und deshalb zumindest mit Ärzten kooperieren müssen), Kinder- und Jugendärzte (die aber oftmals die psychische Symptomatik nicht beachten und dann das niedrige Körpergewicht fälschlicherweise als unbedenklich einstufen) oder Beratungsstellen von Gesundheitsämtern (die aber keine Therapie anbieten können und deshalb immer nur erste Anlaufstelle sein können). In einigen Städten gibt es spezialisierte Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen, die auch Therapie anbieten, deren Mitarbeiter hochqualifiziert sind und die mit Ärzten kooperieren, um auch die körperlichen Aspekte ausreichend zu berücksichtigen.

Betroffene und ihren Angehörige können sich auch im Internet ausführliche Informationen über das Krankheitsbild beschaffen und sich in Foren und Chatrooms mit anderen austauschen. Die beste Adresse dafür ist das Portal www.hungrig-online.de – an diesen Seiten arbeiten mehrere Fachleute (Ärzte und Psychologen) mit, sie enthalten eine Fülle von Informationen für Betroffene und Angehörige, und es gibt zahlreiche Online-Foren zu den verschiedenen Themenbereichen mit tausenden von Teilnehmern.

In diesem ersten Gespräch bei einem Therapeuten ist wichtig, dass die Betroffene so ehrlich wie möglich Auskunft gibt. Es hat wenig Sinn, einem Therapeuten nur „die halbe Wahrheit“ oder Beschönigungen und Verharmlosungen zu erzählen. Eine Behandlung macht meist nur dann Sinn, wenn man bereit ist, die Probleme offen auf den Tisch zu legen und – wenn es auch schwer fällt – eine Veränderung zu wagen. Die Situation ist vergleichbar mit einem Schiffbrüchigen, der sich im Wasser treibend an einer zerbrochenen Planke festhält (die Essstörung), sie aber nun loslassen muss, um zum rettenden Ufer zu schwimmen. Das sieht wie ein Wagnis aus, wie etwas, von dem man meint, man kann es vielleicht gar nicht schaffen. Eine Betroffene erlebt ihre Essstörung oft als etwas Sicherheit gebendes, Stabilisierendes, Verlässliches – trotz aller Verzweiflung oder Enttäuschung, die sie vielleicht parallel darüber empfindet. Sie will sie nicht aufgeben, weil sie nicht weiß, was danach kommt, und weil sie nicht genügend Vertrauen besitzt, dass ein „Leben ohne Essstörung“ ein besseres, glücklicheres sein könnte. Hier kommt es darauf an, dass der Therapeut der Patientin schon im Erstgespräch den Anfang eines solchen Vertrauens vermittelt: die Möglichkeit, dass es mit Therapie ja besser werden könnte. Erfahrungsgemäß fällt das aber sehr vielen Patienten zu schwer. Der andere Teil der Beratung im Erstgespräch ist deshalb auch, die Patientin über die Gefahren der Erkrankung aufzuklären und ihr und ihren Angehörigen zu verdeutlichen, dass die Erkrankung chronisch verlaufen und möglicherweise mit dem Tod enden kann – und dass es aus therapeutischer Sicht keine Alternative zu einer Behandlung gibt. Selbstverständlich ist jede Therapie dann am effektivsten, wenn sie freiwillig und von einem Veränderungsbedürfnis ausgehend unternommen wird. Es ist aber auch die Pflicht eines Therapeuten, bei beispielsweise gefährlich niedrigem Körpergewicht die Eltern einer jugendlichen Patientin darüber aufzuklären, dass es ihrer Tochter aufgrund der Körperschemastörung und der mangelnden Krankheitseinsicht nicht möglich ist, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen, und dass ihnen als Eltern hier eine große Verantwortung zukommt. Man ist nicht in allen Lebenssituationen in der Lage, eine freie Entscheidung zu treffen.

Wenn nun in diesem persönlichen Erstgespräch bei einem Therapeuten die wesentlichen Fakten gesammelt sind, ist es sinnvoll, sich zunächst wieder zu trennen und das Besprochene zu „verdauen“. Die Mehrzahl der Betroffenen ist schockiert, enttäuscht oder voller Widerstand: weil sie die Krankheit völlig verleugnen und sich darüber ärgern, wie man ihnen „so etwas“ unterstellen kann; weil sie nicht zugeben möchten, dass all das tatsächlich stimmt; oder, weil sie einsehen, dass sie tatsächlich an einer Essstörung leiden, aber jetzt erstmals das Ausmaß begreifen und immense Angst vor der Veränderung bekommen, die von ihnen verlangt wird.

In einem zweiten Termin sollten offene Fragen besprochen werden, und bald danach wird, wenn Patientin und Eltern einverstanden sind, eine konkrete Vereinbarung zwischen Patientin und Therapeut geschlossen, wie die Behandlung aussehen soll und welche Ziele sie hat.

Reicht ambulante Therapie – und wie lange dauert sie?

Eine ambulante Therapie ist möglich, wenn die Essstörungs-Symptome noch nicht allzu lange bestehen, wenn bei der Betroffenen eine Krankheitseinsicht und der erklärte Wille zur Mitarbeit vorhanden sind, und wenn die Symptomatik und die körperlichen Folgeerscheinungen kein gravierendes Ausmaß haben. Üblich sind dann bei einer ambulanten Therapie wöchentliche Termine von etwa 50 Minuten Dauer über mehrere Monate, bis die unten beschriebenen Therapieziele erreicht sind und die Patientin einigermaßen sicher ist, jetzt auch selbst stabil bleiben zu können. Üblicherweise wird man die Therapie dann aber auch nicht abrupt beenden, sondern langsam auslaufen lassen, indem die Abstände zwischen den Terminen vergrößert werden, bis sie eher Kontrollterminen als Therapiestunden gleichen.

Therapie ohne Eltern?

Oft entsteht bei Jugendlichen, die ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern haben, die Frage, ob sie auch alleine und ohne Wissen ihrer Eltern zu einem Erstgespräch kommen können, da sie nicht möchten, dass ihre Eltern davon erfahren. Das ist zwar in vielen Fällen möglich, aber nur vorläufig. Denn einerseits ist es rechtlich problematisch, wenn Minderjährige ohne Wissen (und Einwilligung) ihrer Eltern eine Therapie machen, und zweitens besteht eine Therapie auch immer darin, die Familie in geeigneter Weise einzubeziehen, da ein Teil der Probleme, unter denen Jugendliche mit Essstörungen leiden, mit ihrer Familie zusammenhängt, und weil auch die Hauptsymptomatik, nämlich das gestörte Essverhalten, sich zu Hause abspielt.


Ziele der Therapie

In allen Fällen geht es um drei Bereiche von Zielen.

Das erste Therapieziel ist eine Normalisierung des Essverhaltens (Häufigkeit, Menge, Zusammensetzung und Dauer der Mahlzeiten), dazu auch die Reduktion von Essanfällen, Erbrechen und anderen Maßnahmen.

Das zweite Therapieziel ist die Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts (sofern es nicht schon vorhanden ist).

Das dritte, und oft schwierigste Therapieziel ist, miteinander ein „persönliches Störungsmodell“ zu entwickeln, also zumindest teilweise zu verstehen, wie es zur Essstörung kam, und daraus auch alternative, neue Verhaltensweisen zu entwickeln, die der Betroffenen helfen sollen, die Essstörung nicht mehr zu „brauchen“.

1. Ziel: Normalisierung des Essverhaltens

Zur Normalisierung des Essverhaltens ist in der Therapie wichtig, zunächst einen Abschnitt „Ernährungsberatung“ zu behandeln: welche Bestandteile haben die verschiedenen Nahrungsmittel, und wie viel davon benötigt mein Körper pro Tag? Im Verlauf einer „magersüchtigen Entwicklung“ wird der Blick diesbezüglich oft sehr „verzerrt“, und Betroffenen gelingt es immer weniger, realistisch einzuschätzen, welche Auswirkung das Essen bestimmter Nahrungsmittel oder auch der Verzicht auf sie auf den Körper hat. Hier ist dann eine klare Stellungnahme und eine solide und ausführliche Beratung nötig.

Außerdem wird zu Beginn der Therapie auch mit dem Führen eines „Essprotokolls“ begonnen: die Patientin schreibt über einige Zeit (meist mehrere Wochen) auf, was und wie viel sie isst (aber selbstverständlich nicht, wie viele „Kalorien“ diese Nahrung hat, denn durchgängiges Kalorienzählen gehört ausschließlich in den kranken Bereich und sollte im normalen Leben keinen Platz haben). Notiert wird nach Möglichkeit auch, in welchen Situationen das Essen stattfand, wie die Gefühle davor und danach waren und ob dem Essen Maßnahmen zur Gewichtsreduktion folgten. Dieses Essprotokoll gibt der Patientin und der Therapeutin die Möglichkeit, Menge, Tagesverteilung und Ausgewogenheit der Nahrung zu überprüfen und immer wieder Korrekturen anzubringen. Auch eine Erklärung für eine eventuell ausbleibende Gewichtszunahme während der Therapie wird sich oftmals hier finden lassen.

Helen, eine 17jährige Patientin, kommt zur ambulanten Therapie. Während der ersten Wochen bleibt eine Gewichtszunahme trotz Gewichtszunahmevereinbarung aus. Im Essprotokoll finden sich gehäuft nur geringe Nahrungsmengen, aber zahllose Äpfel verzeichnet. Helen selbst räumt es in der Therapiestunde auch ein – so klar war ihr das bisher selbst nicht. Es wird eine konkrete Vereinbarung getroffen, welche Mahlzeiten und Komponenten bis zur nächsten Therapiestunde keinesfalls fehlen sollten. Helen hält sich daran – und nimmt zu.

Schließlich hilft das Protokoll auch, der Patientin den Zusammenhang zwischen Essen und Essproblemen und Lebenssituationen bzw. Gefühlen verständlicher zu machen, denn darauf kommt es oft erst an: „ich habe in dieser Situation nicht gegessen, weil…“ – „ich habe in jener Situation einen Essanfall bekommen, weil…“

Judith, eine 18jährige Patientin, kommt wegen Bulimie in ambulante Behandlung. Durch das Führen der Essprotokolle wird ihr klar, dass sie immer dann einen besonders starken „Essdruck“ bekommt, wenn sie in der Schule gestresst war, Streit mit ihrer Mutter hatte, und sich einsam fühlt, weil keiner ihrer Freunde Zeit hat. Schrittweise kann sie lernen, in diesen Situationen auf andere Verhaltensmuster zuzugreifen, als zu essen.

Als Ergänzung wird in der Therapie auch besprochen, wie die Patientin Essanfällen vorbeugen kann, und welche alternativen Verhaltensweisen bei erhöhtem „Essdruck“ angewendet werden können.

2. Ziel: Wiederherstellung eines normalen Körpergewichts

Dass ein Körpergewicht im Normalbereich zur Bewältigung einer Essstörung gehört, ist nicht verwunderlich – man kann schließlich nicht eine Magersucht hinter sich lassen, aber mager bleiben. Für das Ermitteln eines „Zielgewichts“ hat es sich bewährt, den Body Mass Index (BMI) zu errechnen (indem Größe und Gewicht nach einer Formel in Beziehung zueinander gesetzt werden) und als Ziel die 25. Altersperzentile zu nehmen, die sich aus Tabellen herauslesen lässt. Perzentilen sind Prozentrang-Linien; die 25. Perzentile bedeutet, dass bei diesem BMI 25% der Mädchen einen niedrigeren und 75% einen höheren BMI haben. Altersperzentile bedeutet wiederum, dass diese Werte sich mit steigendem Alter ändern: wer jünger ist, muss bei gleicher Körpergröße nicht so „schwer“ sein wie jemand, der älter ist.

Ein verhaltenstherapeutisches Konzept beinhaltet, dass zu Beginn der Therapie dieser BMI auf der 25. Altersperzentile berechnet wird und dann zwischen Patientin und Therapeut eine wöchentliche Gewichtszunahme von 300g vereinbart wird, so lange, bis das Zielgewicht erreicht ist. Bei wöchentlich 300g lässt sich auf diese Weise auch das Datum errechnen, bis zu dem das Zielgewicht erreicht sein soll, und dieses Datum wird in den Vertrag mit aufgenommen.

Verena ist 12 Jahre alt und wegen einer Magersucht in ambulanter Behandlung. Ihr Gewicht liegt 6kg unter der errechneten 25. BMI-Altersperzentile. Als Zunahmezeitraum wird damit ein Bereich von 10 Kalenderwochen festgelegt. Verena ist motiviert und bemüht sich zunächst, zuzunehmen. Nach 3 Wochen kommt eine Krise, sie meint, nicht „so viel“ dauerhaft essen zu können. Mit Hilfe des Essprotokolls werden belastende Familiensituationen erkannt, in denen Verena das Essen besonders schwer fällt. Durch Umverteilung während des Tages wird eine für sie angenehmere Nahrungsverteilung erreicht, die ihr auch weniger Druck macht. Ihre Mutter wird noch einmal instruiert, auf jegliche Kommentare oder „Ermutigungen“ zum Essen zu verzichten. Nun gelingt Verena das Zunehmen sogar vor Ende des 10-Wochen-Zeitraums.

Was ist nun, wenn eine Patientin im Therapieverlauf einmal nicht die vereinbarten 300g Gewicht zunimmt? Durch Analyse des dazugehörigen Essprotokolls lässt sich vielleicht ein Grund dafür finden. Bis zur nächsten Woche muss die Patientin dann wieder 300g zugenommen haben, sonst erhält sie die „Gelbe Karte“. Falls in der dann darauffolgenden Woche die 300g Zunahme wieder (zum 3. Mal) nicht geschafft wurden, sollte man sich eingestehen, dass das Ziel der ambulanten Therapie – nämlich unter anderem auch eine Gewichtszunahme – nicht erreicht ist und nun eine stationäre Aufnahme nötig ist.

Es gibt Therapeuten, die nicht auf diese „strenge“ verhaltenstherapeutische Weise vorgehen, sondern den Aspekt der Eigenverantwortlichkeit in der Therapie mehr betonen. Dieses Therapieprinzip hat auch seine Richtigkeit, aber dennoch sollte eine Normalisierung des Essverhaltens und des Körpergewichts ein messbarer Faktor zur Beurteilung der Therapie sein. Wenn Therapeuten den Patientinnen die Regie über das Essen vollständig überlassen, ohne diesbezüglich eine Absprache oder Kontrolle durchzuführen, besteht die Gefahr einer „Alibi-Therapie“, mit der die Patientin vorweisen kann „ja etwas zu tun“, in Wirklichkeit aber alles beim Alten belässt.

Gerade für jugendliche Patientinnen ist allerdings ein wesentlicher Anteil in der Aufrechterhaltung ihrer Essstörung, dass ihre Eltern, besonders ihre Mütter, sich so sehr in ihr Essen einmischen. Es fällt vielen Eltern sehr schwer, diese Rolle loszulassen, und plötzlich nicht mehr verantwortlich für die Ernährung ihres „Kindes“ zu sein. Aber gerade dieses Loslassen stellt oft einen sehr wesentlichen Teil des Therapieprozesses dar. Es funktioniert allerdings in der Regel nur, wenn die Mutter die Verantwortung für die „richtige Ernährung“ an eine andere Person abgeben kann – eben z.B. den Therapeuten, der am Tag der Vertragsunterzeichnung zur Mutter sagt: „Kümmern Sie sich ab jetzt nicht mehr darum, wie viel oder wenig Ihre Tochter isst. Ermutigen Sie sie nicht mehr, kritisieren Sie nicht, wenn es ihnen zu wenig scheint, schauen Sie nach Möglichkeit nicht mal so genau auf ihren Teller. Lassen Sie es meine Sorge sein – in meiner Praxis wird Ihre Tochter jede Woche gewogen, ich bespreche mit ihr das Essprotokoll, und ich kümmere mich darum, wenn etwas nicht vorangeht. Ich werde mich bei Ihnen melden, wenn es deutliche Probleme gibt!“ Diese Übernahme von Verantwortung ist für manche Mütter schwer zu bewerkstelligen, weil es ihnen nicht gelingt, ihr „Kind“ loszulassen. Das ist dann aber natürlich genau ein Teil des Krankheitsprozesses und bedarf dringender Veränderung, da die Patienten das als einengend und bedrückend empfinden: ihnen „schnürt es die Kehle zu“, „schlägt ihnen auf den Magen“, „stößt ihnen sauer auf“. Andere Mütter sind „heilfroh“, endlich diesen täglichen Kleinkrieg übers Essen nicht mehr gegen ihre Tochter führen zu müssen, sondern sich wieder auf das Miteinander und die Gemeinsamkeiten konzentrieren zu können, was der Beziehung meist sehr gut tut, und damit auch dem Gesundwerden.

Manche Patientinnen mit Bulimie haben in Folge der Essanfälle kein zu niedriges, sondern ein zu hohes Körpergewicht. Hier ist natürlich eine kontrollierte Reduktion sinnvoll. Es wird ein BMI-Korridor berechnet, in den die Patientin kommen soll – ohne Radikaldiät, sondern mit vernünftiger und gesunder Ernährung. Dieser Korridor kann z.B. von der 60. bis zur 25. BMI-Altersperzentile reichen (s.o.).

3. Ziel: Persönliches Störungsmodell und Wiedererlangen von Lebens-Kompetenzen

Während in den ersten Therapiestunden sicherlich das Besprechen der Essprotokolle und des Essverhaltens einen breiteren Raum einnimmt, gewinnt danach zunehmend der eigentlich psychotherapeutische Anteil Bedeutung. So gut es möglich ist, sollte herausgefunden werden, wie der persönliche „Weg in die Essstörung“ aussah, welche Umgebungsfaktoren zu Beginn (falls er sich noch feststellen lässt) herrschten, welche Ansprüche und Enttäuschungen beispielsweise bestanden – von Seiten der Eltern, aus dem eigenen Inneren, durch die Altersgenossen. Welchen „Vorteil“ hat es mit sich gebracht, die Essstörung zu entwickeln, wo gab sie Sicherheit und Kontrolle, wo nahm sie das Gefühl von erwünschter Disziplin und Beherrschung? Wo verlieh die Essstörung das Bewusstsein „einzigartig“ zu sein, „anders“ als die anderen, nicht „mittelmäßig“? Wo erlebt die Patientin sich stark, wo schwach? Was ist an Menschen, an ihren Körpern, an ihrem Geist, „schön“ oder „nicht schön“? Was würde übrig bleiben, wenn die Patientin die Essstörung loslassen würde? Welche Beziehungen müssten geklärt werden, um zu diesem Schritt des Loslassens fähig zu werden? Müssten sich auch andere Menschen ändern – die eigenen Eltern beispielsweise – in ihren Ansprüchen, Wünschen, in ihrem Kontaktverhalten, ihrem Kontrollbedürfnis? Oder in ihrem Verhalten, ihrer Beziehung zueinander?

Monika, eine 15jährige Patientin, wurde wegen Magersucht stationär behandelt. Schnell zeigte sich, dass ihre Eltern in einer tieferen Beziehungskrise steckten, sich aber in der immer größer werdenden Sorge um ihre Tochter immer weniger um ihre Eheprobleme kümmern konnten: die Ehekrise schien zu verschwinden. Dem Mädchen ging es besser, die Eltern konnten aufatmen und sich endlich wieder auch miteinander beschäftigen – die Ehekrise kam wieder auf. Prompt erlitt die Patientin, die inzwischen auch aus der Klinik entlassen wurde, einen Rückfall – die Magersucht war wieder „nötig“, um die Eltern am Austragen ihrer Streitigkeiten zu hindern. Letztendlich war erst ein Auszug von zu Hause die Möglichkeit für die Patientin, ein Leben unabhängig von dem ihrer Eltern zu entwickeln und die Magersucht nicht mehr zu „brauchen“.

Diese und viele andere Fragen werden in der Therapie besprochen, und mit den gefundenen Antworten wird nach und nach versucht, alternative Denkweisen zu entwickeln: wie kann die Welt auch noch sein? Was macht mich in Wirklichkeit einzigartig? In Gesprächen und „Therapiehausaufgaben“ wird versucht, diese Ideen in die Praxis umzusetzen, zu fühlen, wie es sich anfühlt, anders als bisher zu denken, erste Versuche in einem kontrollierten Rahmen zu machen, der Sicherheit bietet und Neues erlaubt. Die Patienten können dadurch die Erfahrung machen, dass sie es mühelos überleben, in der Schule eine schlechtere Note als 2 zu erhalten, mit zwei verschiedenen Schuhen auf die Straße zu gehen, im Freundeskreis ein Gedicht zu rezitieren, unbekannte Menschen erstmals anzusprechen oder schwierige Anrufe zu tätigen. All diese Übungen zur Entwicklung sozialer Kompetenz haben zunächst mit einer Essstörung nichts zu tun, aber der Erfolg in diesen Übungen entzieht den Essstörungen einen Teil ihrer Grundlage, nämlich den der Selbstunsicherheit und des Perfektionsstrebens.

In dieser Weise wird während der Therapie teils nach einem festgelegten Schema, großenteils aber auch frei und den individuellen Bedürfnissen der Patientin gerechter werdend das Relativieren alter Gewohnheiten geübt, um den Blick zu weiten für neue Perspektiven.


Grenzen einer ambulanten Behandlung

Bei einem sehr starken Untergewicht, bereits eingetretenen körperlichen Schäden (Elektrolytmangel im Blut, Herzbeutelerguss, Schwächeanfälle) oder starker Symptomatik, die das Leben sehr beeinträchtigt (mehrmals tägliche Essanfälle mit Erbrechen, soziale Isolation, Unfähigkeit zum Schulbesuch) ist bereits zu Beginn eine stationäre Behandlung nötig. Es ist selten möglich, ein so beträchtliches Ausmaß an Beeinträchtigungen durch einmal-wöchentliche Gesprächskontakte zu verändern, und es wäre ein möglicherweise gefährlicher Zeitverlust, „erst einmal“ eine ambulante Therapie zu versuchen.

Wenn während einer regelhaft durchgeführten ambulanten Behandlung keine ausreichende Normalisierung des Essverhaltens, oder vor allem keine Gewichtszunahme erkennbar ist, obwohl nach dem beschriebenen Schema „Puffer“ eingebaut sind, muss die ambulante Behandlung nach einem vorher festgelegten Kriterium als „nicht erfolgreich“ erklärt und eine stationäre Aufnahme vorbereitet werden.

Lisa, bald 13 Jahre alt, kommt mit ihren Eltern im Mai zum Erstgespräch zum Kinder- und Jugendpsychiater. Sie hat bereits 2 Jahre ambulante Therapie bei einer Psychologin hinter sich, deren Sinn sie selbst nicht so recht einsieht und die auch das Thema Essen nicht ausdrücklich beinhaltet. Schnell wird im Gespräch klar, dass sie ausgesprochen „pro-anorektisch“ denkt: „Ich will aber nicht gesund werden. Glücklich werde ich nur, wenn ich nicht essen muss und abnehmen kann“. Dabei liegt ihr Gewicht nur knapp über der 3. BMI-Altersperzentile. Bei der Erläuterung der Therapie-Möglichkeiten sagt Lisas Vater, er sehe den Sinn einer stationären Therapie schon ein, wolle aber zunächst den Wechsel in die 8. Klasse des Gymnasiums im September (also 4 Monate nach dem Erstgespräch) abwarten, da Lisa ohnehin kaum stabile Sozialkontakte habe und dann die Klasse neu gemischt werde.

Als den Eltern und auch Lisa erläutert wird, dass die Magersucht offenbar jetzt schon chronisch verläuft und die bisherige Therapie Lisas Einstellung zum Thema Körper und Essen nicht verändern konnte, weshalb also eine stationäre Behandlung mehr als dringlich ist, schließen sie sich der Argumentation an und vereinbaren einen ersten Vorstellungstermin in einer jugendpsychiatrischen Klinik.

Ebenso stellen Begleiterkrankungen oft eine Indikation zur stationären Therapie dar, z.B. Depression, abrupte Stimmungsschwankungen, Substanzmißbrauch, Angststörungen, oder natürlich akute oder auch latente Suizidalität (Gedanken, nicht mehr Leben zu wollen).

Was passiert bei einer stationären Therapie – und wie lange dauert sie?

Eine stationäre Behandlung von Essstörungen läuft ähnlich ab wie die bereits beschriebene ambulante. Vielen Patientinnen ist es im ambulanten Rahmen trotz aller Bemühungen nicht gelungen, die Verantwortung für ihr Essen selbst zu übernehmen, weil die Skrupel zu groß sind und sie befürchten, durch Mehr-Essen „zu fett“ zu werden. Diese Patientinnen erfahren in der stationären Therapie eine große Erleichterung, denn die Verantwortung für die Essensmenge wird ihnen abgenommen, indem die Mahlzeiten genau geregelt sind und sie vorportioniertes Essen erhalten. Viele Patientinnen sagen am Ende ihrer Therapie, dass sie – trotz aller anfänglichen Proteste gegen diese Essensmengen – im Nachhinein froh über diese Maßnahme waren, da sie es aus eigener Kraft nie geschafft hätten, sich auf diesem Weg eine Zunahme zu erlauben. Da aber die Mitarbeiter der Klinik quasi sagten: „Du musst dir nichts erlauben. Wir nehmen dir die Verantwortung ab“, konnten sie sich darauf einlassen. Manche Kliniken verstehen es auch gleich von Beginn an als Ausdruck der neu gewonnenen Kompetenz der Patientinnen, dass sie durch eigene Einteilung der Essmenge eigenständig an Gewicht zunehmen, aber gerade jugendliche Patientinnen profitieren meist mehr von einer engeren, verhaltenstherapeutisch orientierten Vorgabe. In manchen Kliniken ist alleine die durch das Essen erreichte Gewichtszunahme von Bedeutung, an die dann zunehmende „Freiheitsgrade“ gekoppelt sind, wie Schulunterricht, Besuch, Ausgang von Station, Beurlaubungen etc. Manche Kliniken belohnen zusätzlich noch den vollständigen Verzehr der Mahlzeiten. Üblicherweise essen Patientinnen mit Essstörung gemeinsam mit Betreuern („Modellessen“) in einer separaten Gruppe. Ziel ist auch hier die Zunahme auf ein vorher schriftlich vereinbartes „Zielgewicht“. Sobald es erreicht ist, dürfen Patientinnen selbst entscheiden, wie viel sie (ab einer gewissen Mindestmenge) zu sich nehmen vorausgesetzt, sie halten durch dieses eigenständigere Essen ihr erreichtes Gewicht.

Außerdem bietet eine stationäre Behandlung eine Reihe von Möglichkeiten, die über den ambulanten Rahmen hinausgehen: In einer Modellküche können unter fachkundiger Anleitung Mahlzeiten gekocht werden – vom Einkauf über die Zubereitung bis zum gemeinsamen Essen. Für viele Patientinnen ist dies eine gute Hilfe, wieder neu einschätzen zu lernen, welche Zutaten ein „normales“ Essen hat und welche Mengen eigentlich „normal“ sind. Es gibt gruppentherapeutische Angebote, in denen man gemeinsam mit anderen sowohl über die belastenden, „essgestörten“ Gedanken sprechen und miteinander Gegenstrategien entwickeln kann, als auch körperorientiert arbeiten (z.B. Silhouetten-Einschätzungen mit Seilen oder gemalten Umrissen auf Papier mit gegenseitiger Rückmeldung). In vielen Kliniken wird auch Kunsttherapie als Ausdrucksform eigener Gefühle angeboten; auch das Erlernen von Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung) kann sich sehr positiv auswirken, da die Patientinnen dadurch lernen, in Stresssituationen ruhiger zu bleiben und alternative Lösungen statt Essensverzicht oder Überessen anzuwenden.

Außerdem ist der Abstand zur eigenen Familie oft für die Patientinnen der ausschlaggebende Faktor, der ihnen überhaupt erst ermöglicht, wieder frei zu essen. Eine Patientin sagte einmal: „Das Dumme ist, dass mir sogar schmeckt, was meine Mutter kocht, aber ich möchte auf keinen Fall, dass sie irgendwie bemerkt, dass ich es genieße – also esse ich in ihrer Gegenwart nichts!“

Die Dauer einer stationären Behandlung beträgt für Jugendliche mehrere Monate, da nicht nur die Gewichtszunahme und das normalisierte Essverhalten, sondern besonders die psychotherapeutische Komponenten, nämlich das Verändern von Bewertungen und Einstellungen, viel Zeit benötigt. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass die Rückfallgefahr umso mehr steigt, je früher ein stationärer Aufenthalt beendet wird. In jugendpsychiatrischen Kliniken haben die Patientinnen auch immer Schulunterricht, so dass bei genügendem Fleiß oft auch das aktuelle Schuljahr bestanden werden kann. Einigen Patientinnen, die angesichts der mehrmonatigen Therapie das Klassenziel nicht erreichen und das Jahr wiederholen müssen, ist zu raten, diese Zeit dennoch zu investieren, da sie ohne eine Therapie zwar zunächst keine Schule verpassen, auf lange Sicht aber überhaupt nicht mehr in der Lage sein werden, dem Unterricht zu folgen (weil bei fortbestehender und zunehmender Essstörung die Konzentrationsfähigkeit stark sinkt) oder die Schule überhaupt zu besuchen, da psychische und körperliche Folgeerscheinungen das mehr und mehr verhindern.

Im Laufe der stationären Therapie sollten auch die Eltern oder Angehörigen konkreter in die Behandlung einbezogen werden. Zu Anfang finden nur in regelmäßigen Abständen Eltern- oder Familiengespräche statt, in denen die Angehörigen über das Krankheitsbild und auch den Therapiefortschritt der Patientin informiert werden können. Im weiteren Verlauf sollten dann auch „Familienmahlzeiten“ auf Station stattfinden, wo die Eltern unter Begleitung eines Therapeuten gemeinsam mit der Patientin z.B. frühstücken. Viele Patientinnen haben große Angst vor einem solchen Zusammentreffen, was wiederum die große Dynamik zeigt, die diese Familienbeziehungen in der Aufrechterhaltung der Essstörung haben – und was umso mehr unterstreicht, wie wichtig die Einbeziehung der Familie ist. So, wie es (wie oben beschrieben) insbesondere für Mütter oft eine große Entlastung darstellt, sich zunächst nicht mehr um die Ernährung ihrer Tochter kümmern zu müssen, so wichtig ist es, neu zu lernen, auf welche Weise sie denn jetzt mit diesem Thema umgehen sollen. Selbst nach der Entlassung von Station – oder, bei ambulanten Therapien, auch in der Schlussphase der Therapie – ist das ein großes Problem. In vielen Familien müssen nach erfolgreicher Therapie die Eltern erst einmal lernen, dass ihre Tochter jetzt „wieder normal“ ist und isst, und dass sie dieses Leben in der Normalität entschieden zulassen müssen, damit ihre Tochter aus der Rolle der Ständig-Beäugten herauskommt und sich wieder wohlfühlen kann.

Freiwillig oder nicht?

In vielen Fernsehberichten sieht es so aus, als ob eine Klinikbehandlung unter Zwang stattfindet, die Patientinnen praktisch entmündigt sind und die Ernährung auch immer mal mit Magensonde stattfindet – wo also über eine Sonde, die durch ein Nasenloch in den Magen geführt wird, kalorienreiche Flüssignahrung zugeleitet wird. 

Richtig ist an diesen Berichten lediglich, dass diese Dinge prinzipiell stattfinden können. Nämlich immer dann, wenn das Untergewicht einer Patientin bereits lebensbedrohlich ist und sie sich weigert, freiwillig eine Therapie zu machen. Dann können ihre Eltern das Familiengericht einschalten und eine geschlossene Unterbringung und medizinische Behandlung auch gegen den Willen der Patientin beantragen. Wenn der Richter dem stattgibt, können diese Zwangsmaßnahmen erfolgen – und das ist für manche Patientin lebensrettend.Falsch an diesen Berichten ist, dass man den Eindruck gewinnt, Derartiges würde häufig stattfinden. Es sind Ausnahmefälle, die allein deshalb eigentlich gar nicht eines Fernsehberichts wert sind. Medien sind aber naturgemäß an tragischen Schicksalen interessiert, denn wenn es harmloser ist, reißt es nicht so mit. Die überwiegende Mehrheit aller Essstörungs-Therapien verläuft aber tatsächlich freiwillig, ohne Zwangseinweisung, ohne jegliche künstliche Ernährung (auch nicht mit trinkbarer Flaschen-„Astronautenkost“, denn auch die ist unphysiologisch und somit nicht natürlich), sondern ausschließlich aufgrund geschlossener Vereinbarungen, durch eigenes Essen, kombiniert mit Psychotherapie und positiver Verstärkung. Natürlich stellen es manche Patientinnen als „Erpressung“ dar, wenn sie nur dann Ausgang von Station erhalten, wenn sie die vorportionierte Nahrungsmenge aufgegessen haben. Hier müssen dann immer wieder Klärungsgespräche geführt werden, die aufzeigen, dass Erpressung ein Straftatbestand ist, bei dem Menschen sich bereichern, indem sie anderen Gewalt oder ein Übel androhen. Beides liegt der Therapie einer Essstörung fern: weder möchte der Therapeut von der Patientin Geld oder Gut haben, noch ist das vertragsgemäße Ausfallen des Ausgangs Gewalt oder Übel. Wenn derartige Diskussionen mit dem nötigen Respekt gegenüber dem Wunsch der Patientin, aber auch mit Bestimmtheit geführt werden, arten sie meist nicht in Streit aus und sind für die Patientinnen letztendlich auch akzeptabel.

Selbstverständlich gibt es Umstände, unter denen Patientinnen die stationäre (oder auch ambulante) Behandlung nicht weiterführen möchten. In den allermeisten Fällen steht ihnen das frei, und nach angemessener Diskussion mit dem Therapeuten und den Angehörigen kann jede begonnene Behandlung auch wieder beendet werden. Eine Ausnahme stellt nur dar, wenn – wie bereits beschrieben – das Untergewicht nachvollziehbar lebensbedrohlich ist und womöglich auch eine Krankheitseinsicht fehlt. Wenn in solch einem Fall nicht nur die jugendliche Patientin, sondern auch noch ihre Eltern den Abbruch der Behandlung wünschen, lässt sich von Seiten der Ärzte auch der Entzug des Sorgerechts der Eltern bei Gericht beantragen. Glücklicherweise ist dieser Fall noch seltener als die Behandlung einer Patientin gegen ihren Willen auf Antrag der Eltern.

In allen anderen Fällen kann die Behandlung beendet werden, manchmal vielleicht gegen die Unterschrift der Eltern, dass sie über die möglichen negativen Konsequenzen (chronischer Verlauf, Verschlechterung…) aufgeklärt wurden und selbst gegen den Rat der Ärzte die Verantwortung übernehmen.

Fazit

Insgesamt können wir festhalten, dass die Behandlung von Essstörungen (Magersucht, Bulimie) gleichermaßen nötig wie erfolgversprechend ist. Ohne Therapie sind die Chancen auf ein Verschwinden der Essstörung relativ gering und es droht eine Chronifizierung mit Folgeerkrankungen. Mit Therapie – wenn sie fachkundig durchgeführt wird und ausreichend lange dauert – kann die Symptomatik in sehr vielen Fällen stark reduziert oder ganz beseitigt werden. Das stellt für viele Patientinnen einen großen Gewinn an Lebensqualität dar, das Selbstwertgefühl steigt, man ist sich seines Wertes wieder bewusst: Glücklichsein, ohne dünn sein zu müssen – Keine Illusion, sondern erreichbare Wirklichkeit.

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